Es ist so: Das Land, in dem ich geboren wurde, gibt es heute nicht mehr.
Also doch, Herkunft, wie immer, dachte ich und legte los: Komplexe Frage! Zuerst müsse geklärt werden, worauf das Woher ziele. Auf die geografische Lage des Hügels, auf dem der Kreißsaal sich befand? Auf die Landesgrenzen des Staates zum Zeitpunkt der letzten Wehe? Provenienz der Eltern? Gene, Ahnen, Dialekt? Wie man es dreht, Herkunft bleibt doch ein Konstrukt! Eine Art Kostüm, das man ewig tragen soll, nachdem es einem übergestülpt worden ist. Als solches ein Fluch!
»Erinnerst du dich an ihren Einmarsch, Oma?«
»War eher ein Einschleich. Die kamen geduckt. Von allen Seiten.«
»Hattest du Angst?«
»Alle hatten Angst. Die Deutschen hatten Angst, deswegen schlichen sie so herum. Und wir hatten Angst, weil die so herumschlichen, man kannte die Geschichten. Alle hatten Angst voreinander, und das hat mir Angst gemacht. «
immerhin hatte ich selber manchmal Schwierigkeiten, deutsche Namen vorurteilsfrei einzuordnen. In einer Unterhaltung über ein Paar, das ich nicht kannte, fragte ich, wer von den beiden die Frau sei, Hauke oder Sigrid. Und dann waren beides Frauen!
啊哈哈哈哈
Meine Familie lebt über die ganze Welt verstreut. Wir sind mit Jugoslawien auseinandergebrochen und haben uns nicht mehr zusammensetzen können. Was ich über Herkunft erzählen möchte, hat auch zu tun mit dieser Disparatheit, die über Jahre mitbestimmt hat, wo ich bin: so gut wie niemals dort, wo Familie ist.
[…]
Herkunft sind die süß-bitteren Zufälle, die uns hierhin, dorthin getragen haben. Sie ist Zugehörigkeit, zu der man nichts beigesteuert hat.
[…]
Herkunft ist Krieg.
Mutter und ich verbrachten Stunden in der Telefonzelle am Bahnhof. Wenn ein anderer telefonieren wollte, gingen wir raus, Mutter rauchte eine. Wir versuchten, meist vergeblich, irgendwen - Mann, Vater, Bruder, Großmutter - zu erreichen. Wochenlang kamen wir nicht durch, wochenlang wussten wir nicht, ob derjenige, den wir sprechen wollten, noch sprechen konnte.
Im Neonlicht auf dem Flur begegneten sie einander. Er konnte sich an die junge Frau erinnern, die Polenta aus der Küche bringt, und sie an den jungen Mann und sein Sakko über der Stuhllehne. Das reicht ja manchmal für den Anfang: die gemeinsame Erinnerung an einen Augenblick, der zunächst keine Bedeutung zu haben scheint.